SFH-141392  Menschenrechte: „Staat muss öffentliche Sicherheit schützen", Die Presse  Von Benedikt Kommenda 04.02.2019 um 14:05

Hannes Tretter, Experte für Grundrechte, verteidigt die Europäische Menschenrechtskonvention gegen die Kritik aus der FPÖ. Im Interesse der Freiheit und Sicherheit aller lasse sie auch Freiheitsbeschränkungen Einzelner zu.

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Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg zwingt Staaten zur Balance zwischen widerstreitenden Interessen.
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg zwingt Staaten zur Balance zwischen widerstreitenden Interessen. – (c) REUTERS (Vincent Kessler)

Wien. Statt Fundamentalkritik an der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) zu üben, sollte Innenminister Herbert Kickl (FPÖ) sagen, wodurch genau er den Gesetzgeber bei Problemen der Migration zu stark eingeschränkt sieht. „Der Innenminister soll sagen, was er im Einzelnen vorhat, dann kann man anhand der Judikatur des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte anschauen, was möglich ist", sagt Hannes Tretter, Leiter des Ludwig Boltzmann Institut für Menschenrechte in Wien.

Wenn konkrete Sicherheitsinteressen der Bevölkerung gefährdet sind, Asylanträge nicht rasch genug bewältigt werden können oder Flüchtlinge während des Verfahrens abtauchen, seien das Probleme, die ernst zu nehmen seien. Die aber den Staat nicht zum Zuschauen zwingen: „Die EMRK erlaubt es, auf Entwicklungen und Ereignisse zu reagieren, die öffentliche Interessen gefährden sowie Rechte und Freiheiten von Menschen beeinträchtigen", sagt Tretter. „Denn der Staat hat eine grundrechtliche Gewährleistungspflicht der gesamten Bevölkerung gegenüber; so muss er dafür sorgen, dass sie sich möglichst sicher im öffentlichen Raum bewegen kann, und darf dabei auch die Rechte und Freiheiten anderer beschränken."

Die EMRK stammt zwar aus den 1950ern, ist aber nicht erstarrt. „Sie ist ein lebendiges Rechtsschutzinstrument, das über die Rechtsprechung stets weiterentwickelt und aktuellen Herausforderungen angepasst wurde." Für Tretter ist die Konvention – mittlerweile auch Bestandteil der EU-Grundrechtecharta – mehr als nur ein Statement gegen den überwundenen Faschismus. „Sie steht für die Wiederkehr der Aufklärung", der Einsicht, dass alle Menschen mit Freiheit und Würde geboren sind. So kam es dank der Konvention etwa zum Verbot der Prügelstrafe oder zum Verbot, Menschen in Länder abzuschieben oder auszuliefern, in denen ihnen Folter oder Todesstrafe droht. „Wo immer aber Interessenkonflikte auftreten, ist es Aufgabe der Rechtsprechung, eine angemessene Balance zu finden und widerstreitende Freiheiten, Rechte und Interessen in einem größtmöglichen Umfang zu realisieren – und das auf der Grundlage des Prinzips der Verhältnismäßigkeit."

Das erläutert Tretter anhand von Fällen, in denen der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) Beschränkungen der Freizügigkeit von Strafverdächtigen geprüft hat. Dabei ging es durchwegs um Inländer der jeweils geprüften Staaten – Asylwerber, denen Innenminister Kickls erhöhte Aufmerksamkeit gilt, dürfen laut Genfer Flüchtlingskonvention aber nicht schlechter behandelt werden als Inländer.

 

Mafioso auf Insel verbannt

Michele Guzzardi war ein italienischer Mafioso, gegen den zu ermitteln sich schwierig gestaltete. Als er mangels Beweisen aus der U-Haft entlassen werden musste (eine Verurteilung erfolgte erst später), wurde er 1975 auf Grundlage eines speziellen Überwachungsgesetzes auf die kleine Insel Asinara vor Sardinien verbannt, weil er eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit darstellte. Er war dort nicht wirklich eingesperrt, aber in seiner Bewegungsfreiheit stark eingeschränkt: Er durfte den Hauptort der Insel und fallweise das Festland nur mit Genehmigung und unter Polizeiaufsicht besuchen und musste bis 22 Uhr zurückkehren. Zwar durfte er mit seiner Familie zusammenleben, weitere soziale Kontakte waren jedoch praktisch unterbunden. Das alles war zu einschneidend für einen bloß Verdächtigen: 1980 entschied der EGMR, dass Italien Guzzardi in seinem Recht auf persönliche Freiheit (und nicht nur im Recht auf Freizügigkeit) verletzt hatte.

Das war bei Giuseppe Raimondo, einem zweiten Mafioso, der es in die Straßburger Judikatur geschafft hat, anders. Auch er war verdächtig und sollte überwacht werden. Er durfte aber in seinem Heimatort bleiben und mit Genehmigung seine Wohnung tagsüber verlassen. In seinem Fall stellte der EGMR 1994 nicht einmal eine Verletzung des Rechts auf Freizügigkeit fest, weil Raimondo seinem gewöhnlichen Leben nachgehen konnte, wenn auch eingeschränkt.

Restriktionen musste sich auch Hans Walter Olivieira gefallen lassen: Als Niederländer, der fest in der Drogenszene von Amsterdam verwurzelt war, wurde er vom Bürgermeister wiederholt aufgefordert, einen bestimmten Hotspot zu meiden. Er widersetzte sich, bis die Behörde ein formelles Verbot für die Dauer von 14 Tagen aussprach. Gegen dieses wehrte sich Olivieira in Straßburg – jedoch erfolglos, weil der EGMR 2002 den Staat als berechtigt sah, Olivieiras Freizügigkeit im öffentlichen Interesse einzuschränken, um Straftaten vorzubeugen. In einem vierten Urteil, Tommaso gegen Italien aus 2017, schlug das Pendel wieder zugunsten der Freizügigkeit aus, weil Italien den mehrfach wegen Tabakschmuggels, Drogenhandels und illegalen Waffenbesitzes verurteilten Beschwerdeführer mit einem in Summe zu engen Korsett an Beschränkungen belegt hatte: vom Handyverbot bis zum Gebot, Bars, Bordelle und öffentliche Versammlungen zu meiden.

 

Asyl? Eine Woche Anhaltung

Im Urteil Saadi gegen UK 2008 hat der EGMR festgestellt, dass es zulässig war, einen illegal eingereisten irakischen Asylwerber zur Verhinderung der Einreise eine Woche anzuhalten. Hingegen hat der VfGH 1992 entschieden, dass die vom Asylgesetz 1968 gedeckte Möglichkeit, Asylwerber zur Prüfung ihres Antrags bis zu zwei Monate in Traiskirchen festzuhalten, verfassungswidrig war. Art. 5 EMRK und das Verfassungsgesetz zum Schutz der persönlichen Freiheit erlauben Freiheitsentzug nur zur Sicherung eines Ausweisungs- oder Auslieferungsverfahrens im Fall der Ablehnung des Asylantrags.

Freilich ist das im Vergleich zu anderen EU-Staaten ungleich friedlichere Österreich noch immer mit Folgen der unkontrollierten Massenflucht 2015 konfrontiert. Wenn konkrete Bedrohungen der Gesellschaft nachweislich vorliegen, dann dürfe, ja müsse die Politik auf Basis der Grundrechte gegensteuern, meint Tretter. Der Experte kritisiert, dass Innenminister Kickl es während der EU-Präsidentschaft 2018 unterlassen habe, einen Verordnungsentwurf der EU weiter zu verhandeln oder beschließen zu lassen; dieser sieht Einschränkungen des subsidiären Abschiebeschutzes im Fall der Nichtzuerkennung von Asyl vor, die mit der Genfer Flüchtlingskonvention und den Menschenrechten in Einklang stehen dürften. „Missgönnt Kickl der EU, solche Maßnahmen in Kraft zu setzen?", fragt Tretter. „Hier hätte Kickl ,kreativ' sein können."

Zur Person

Hannes Tretter, Wiener des Jahrgangs 1951, ist ao. Universitätsprofessor für Grund- und Menschenrechte i. R. Tretter leitet das Ludwig Boltzmann Institut für Menschenrechte (BIM) in Wien, das er zusammen mit Felix Ermacora (1923–1995) und Manfred Nowak im Jahr 1992 gegründet hat.

 

( "Die Presse", Print-Ausgabe, 02.02.2019)

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